ULTIMA RATIO (FHTAGN) – der ultimative Verriss


In diesem Kurz-Szenario, Spieldauer 60 Minuten, für das alternative Cthulhu-Spielsystem FHTAGN geht es um die letzte Fahrt der Hindenburg im Jahr 1937. Die drei vorgefertigten Spieler-Personnagen erwachen mit Erinnerungslücken im technischen Bereich des Luftschiffs.

One-Shot-Szenarios versprechen geballte Spannung durch konstruiertes, kompakte Handlungsabläufe, mit wenig Zeit für Erforschung und Entscheidungen, oft mit widersprüchlichen Zielen der Spieler-Personnagen. Dieses hochgelobte Mikroszenario versagt allerdings auf allen Ebenen.


Schon die Entscheidung, das Szenario um der Historizität willen in der Nazizeit anzusiedeln, schafft Schwierigkeiten. Lässt man die Hakenkreuze auf den Fotos der Hindenburg stehen, zeigt man verfassungsfeindliche Symbole auf Material mit Unterhaltungszweck. Touchiert man sie fort, verfälscht man Geschichte. Eine verwaschene Darstellung wäre geschickt gewesen, aber was soll’s. Dass beim Titel des Szenarios in mir die „Endlösung“ resoniert, liegt vielleicht an mir – ist der Titel also ungeschickt gewählt oder klug?

Mit einem fiktiven Zeppelin 10-15 Jahre zuvor hätte man sich viele Probleme sparen können.

[Spoiler warning!]

So sind die Antagonisten, Mitglieder der geheimen Thule-Gesellschaft mit geheimen Tätowierungen, unglaubwürdig, wozu diese Nazi-Geheimverschwörung im Jahr 1937? Welche Organisation kann zu dem Zeitpunkt noch mit der SS konkurrieren? 10-15 Jahre zuvor dagegen …

Lachhaft ist die eigentliche Prämisse des Abenteuers: An Bord des Luftschiffs befindet sich ein Shoggoth. Dieser soll durch seine Anwesenheit die USA so weit destabilisieren, dass sie kriegsuntauglich werden. Ach? Nun reiht sich Ultima Ratio jedoch in einen Kosmos ein, der mit Cthulhu-Szenarios überfrachtet ist, was Spieler als Kanon ansehen werden. Es wimmelt in den USA von Mythos-Entitäten! Schon mal in die Schmugglertunnel unter Innsmouth geschaut? Was soll ein lächerlicher weiterer Shoggoth bitte für einen Unterschied machen, der kriegsentscheidend ist? Das ist vollkommen an den Haaren herbeigezogen.

Nun zu den vorgefertigten Spieler-Personnagen. Wäre es nicht cool gewesen, Mannschaft und Kapitän eines Luftschiffs mit gefährlicher Fracht spielen zu dürfen und richtige Entscheidungen zu treffen? Aber 1937 sind das ja Nazis. Warum nicht 10-15 Jahre …?

Der Autor hat sich redlich bemüht, die Spieler-Personnagen, einfache Passagiere, so zu schreiben, dass sie keine Nazis sind (wofür man ja dankbar sein darf). Der erste, Manfred Herrmann, soll aber gleichzeitig Wehrmachts-Offizier sein, also ist er Deserteur – als Offizier, noch vor Kriegsbeginn! Werner Müller, der Ingenieur, ist sogar Pazifist! Ihre Hintergrundgeschichten sind hölzern wie eine ARD-Produktion.

Schließlich haben wir noch Luisa Grünfeld, eine wohlhabende Jüdin, die mit diesem Luxusreisemittel in die USA reist, um die Übersiedlung ihrer Familie in die USA zu organisieren. Moment mal – in dieser exklusiven Gesellschaft auf der Hindenburg, die von einem NSDAP-Mitglied geflogen wird, sind im Jahr 1937 Juden geduldet? Ist vor dem Abflug das Schild mit der Aufschrift „Judenfreies Luftschiff“ heruntergefallen und keiner hat es gemerkt? Dieser Figur zu dieser Zeit an diesem Ort ist völlig unglaubwürdig. Würde das Szenario nur 10-15 Jahre früher spielen … Nachtrag: Inzwischen habe ich gelernt, dass sich tatsächlich zwei jüdische Reisende an Bord befanden, William Leuchtenberg und Moritz Feibusch. Beide waren US-Bürger, im Unterschied zu unserer fiktiven Luisa Grünfeld. Denoch ziehe ich diesen Einwand zurück, schließlich war es Nazi-Politik, Juden zur Ausreise zu nötigen, warum ihnen also ein Reisemittel verwehren, das von internationalen Reisenden genutzt wird.

Im Szenario sollen die Spieler-Personnagen innerhalb des technischen Bereichs bleiben. Sie sind alle drei so angelegt, dass sie im Szenario jeweils nur eine Funktion ausüben sollen. Der Deserteur darf auf Nazis schießen – klar. Der Ingenieur darf an einer tickenden Zeitbombe herumbasteln, klar. Die Frau darf nur hilflos schreien – leider klar. Leute, wenn es für ein Szenario vorgefertigte Personnagen gibt und nur eine davon ist weiblich – nehmt sie nicht! Die Frau hat immer die Arschkarte! Wenigstens ist Luisa Grünfeld nicht schwanger. Aber sie hat mit ihrem Hintergrund eigentlich keine Chance, nicht am Shoggothen zu kleben und das Szenario über vollkommen nutzlos zu sein.

Es gibt insgesamt nicht viel zu tun außer der Entscheidung über das Schicksal der Hindenburg und des Shoggoths. 5 Minuten Bombe entschärfen und auf Kultisten schießen, 5 Minuten Entscheidung ob die Bombe doch wieder scharf gestellt werden soll oder nicht. Bleiben 50 Minuten Charakterspiel mit langweiligen Hintergrundgeschichten und gegen Nazis.



Was man zugute halten muss: Für Spieler ist das ganze nach einer Stunde überstanden. Der Autor aber gibt an, das Szenario vor Veröffentlichung 40 Mal auf Conventions geleitet zu haben. Das muss der wahre Horror sein – gefangen in ULTIMA RATIO, der Murmeltierstunde des Grauens.

Published in: on Juni 9, 2024 at 8:54 am  Comments (6)  
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6 KommentareHinterlasse einen Kommentar

  1. Nice review. I haven’t heard of FHTAGN…is it a rules light version of CoC?

    Fascinating to read a German gamer’s perspective on pulp/Nazi-shooting genre material. Being an American we’ve been rather inundated with this kind of thing for decades to the point that it doesn’t register as any kind of ‚hot button‘ topic (emotionally, politically, etc.). But, of course our bowdlerization of thing is reflective of our lack of sensitivity to cultures outside our own.

    [we tend to be hypocritical in this regard: you probably never, for example, see a scenario dropping a shoggoth in the Antebellum south, regardless of the characters used…the setting would simply be „too touchy“]

    Anyway, thanks for sharing.

    • Indeed, FHTAGN is a free, rules-lite Cthulhu RPG published by a German Club of HPL fans.

  2. oh eine tiefsitzende Feindschaft gegenüber Cthulhu und eine kollegiale Freundschaft. 😁

    • Ich verstehe den Kommentar nicht. Du hast eine tief sitzende Feindschaft zu Cthulhu? Warum?

  3. Hm.

    Auf jeden Fall sehr interessant, auch mal eine andere Sichtweise auf das Szenario zu lesen – in cthuloiden Kreisen wurde es (auch von mir) stets in höchsten Tönen gelobt.

    Tatsächlich fallen die Logikbrüche gar nicht weiter ins Gewicht, da die SC üblicherweise sehr mit sich selbst bzw. der um sie herum eskalierenden Situation beschäftigt sind. War zumindest an meinem Spieltisch so :-).

    Das Szenario stellt halt – recht geschickt, wie ich finde – exakt „eine“ Situation mit einem ganz bestimmten Handlungsverlauf dar, ohne „wirklich“ railroadig zu sein. Theoretisch können ja doch alle von Bord hüpfen, wenn sie wollen. Aber sowas muß man natürlich auch mögen und ich kann verstehen, dass das nicht jedermanns Fall ist 🙂

  4. Ich habe das Abenteuer selbst auf einer CON gespielt, beim Autor als Spielleiter. Es war (mit Abstand) eine der beiden Top-Spiele-Erfahrungen der letzten 35 Jahre.

    Die von dir entdeckten „Logiklöcher“ halte ich für etwas konstruiert. Sie erschließen sich für mich nur teilweise, und selbst man diese so sieht, sind sie für das Spielerlebnis komplett irrelevant, und für die Charaktere auch nicht ersichtlich.

    Ich empfehle jedem sich auch das Abenteuer einzulassen!


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